Beobachtungen an Singing Calls
(Version 2005-04-06)
Martin Ingenhütt
[Der folgende Text wurde in seiner ersten Fassung als eine Art pseudo-ethnographische Einführung in den Squaredance für ein Publikum mit einer gewissen musikalischen Vorbildung geschrieben; mehrfache Überarbeitung versuchten anschließend, das Dokument auch für andere Lesergruppen genießbar zu machen (dennoch wurde nicht jeder musikalische Fachausdruck erklärt). Immer mehr hinzugefügte choreographische Details dürften die Lektüre inzwischen für jeden abstrakt machen, der mit dem Squaredance nicht vertraut ist.]
Der Text versucht, ohne explizite Wertung all das zusammenzustellen, was dem Autor über das Themas bekannt ist - eigene Beobachtungen ebenso wie Hinweise erfahrener Caller. Hauptthema ist dabei die formale Gestaltung, also die Abläufe in der Zeit. Jede Ergänzung seitens eines Lesers ist willkommen und wird möglicherweise in die nächste Textversion einfließen. Dank an dieser Stelle an Annette Spelger für mehrere sehr fruchtbare und erhellende Diskussionen.
Singing Call
Als Abschluss der zweiteilige Squaredance-Tanzfolge (des 'Tips') folgt ein Tanz von üblicherweise gut dreieinhalb Minuten Länge. Dieser Singing Call basiert auf irgendeinem bekanntem Popsong (häufig im Country&Western-Stil); er bietet den Tänzern einen Wiedererkennungs- und eventuell Mitsingeffekt und - aus choreographischer Sicht - gegenüber dem vorangegangenen Pattern eine gewisse Entspannung.
Form
Singing Calls sind in erstaunlicher Strenge standardisiert. Sie bestehen heute praktisch ohne Ausnahme aus sieben exakt gleichlangen Teilen zu jeweils acht Zeilen à acht Beats. Jeder Formteil umfasst also streng 64 Beats, der gesamte Singing Call damit das siebenfache, woran sich häufig noch ein Anhängsel ('Tag') von wenigen Beats anschließt (üblicherweise im Rahmen von zwei Zeilen, also 16 Beats); vorauf gehen meist zwei (selten eine) Zeile 'Intro', die den Beteiligten helfen, sich auf Tempo, Tonart und Atmosphäre einzustellen, choreografisch aber nicht genutzt werden.
Anmerkung: Der Autor sammelt Aufnahmen von Singing Calls, die eine ungewöhnliche Form haben. Hinweise zu solchen Beispielen sind deshalb immer sehr willkommen.
Auch wenn die Formteile gleiche Länge haben, gehören sie aus choreographischer (nicht unbedingt musikalischer) Sicht zu einem von zwei Typen, die nach dem Schema 'A BB A BB A' aufeinanderfolgen. Dabei haben die A- und B-Teile streng unterschiedliche Funktionen; alle hier mit gleichem Buchstaben bezeichneten Teile können in der Choreographie identisch sein und sind dies auch fast immer auf der gecallten Seite der käuflichen (Single-)Schallplatten; zumindest die B-Teile werden aber im Life-Betrieb praktisch immer ausgetauscht.
Musikalisch sollte man sich nicht etwa vorstellen, dass die einen Teile die Strophen und die anderen die Refrains des zugrundeliegenden Songs repräsentieren; vielmehr bilden - von wenigen Ausnahmen abgesehen - meist je eine Strophe und ein Refrain zusammen jeweils einen Formteil des A- oder B-Typs.
A-Teile
Die drei A-Formteile heißen im Jargon 'Opener', 'Middle Break' und 'Closer'; als gemeinsamer Name wird manchmal 'Break' verwendet. Choreographie, Musik und gesungener Text sind geprägt durch folgende Kriterien:
- ausschließlich Kreiscalls, also niemals direktes Ansprechen der Head- oder Side-Paare
- aus diesem Grunde ein verhältnismäßig schmales Repertoire an möglichen Calls. (Interessanterweise werden die allermeisten Calls deutlich entweder fast ausschließlich im A-Teil oder im B-Teil eines Singing Calls verwendet.)
- Verwendung von Calls mit längerer Dauer, um dem Caller das Singen von Teilen der Originalstrophe zu ermöglichen. (Ein Grand Square ist dazu ideal.)
- eher einfache Choreografie, die das parallele Hören des zugrundeliegenden Songs ermöglicht
- immer gesungen (auf die Originalmelodie des zugrundeliegenden Songs)
- ein gewisses Bestreben des Callers, in den drei A-Teilen einen repräsentativen Querschnitt durch das Textmaterial der Originalstrophen zu bieten
- nachdem sich der Caller 'seine' Version eines Singing Calls geschaffen hat, variiert er die A-Teile nur wenig von Vortrag zu Vortrag
- Da im Opener ja zugleich der Song vorgestellt wird, ist die Tänzeraufmerksamkeit verringert, und der Caller will viel vom ursprünglichen Textmaterial unterbringen; dieser Teil ist daher tendenziell standardisierter als die folgenden Teile.
- Da im Middle Break die Tänzer jeweils nicht den Originalpartner an der Hand haben (siehe dazu unten), sind diejenigen Calls schwieriger, bei denen man aus einer Tänzergruppe (etwa einem drehenden Handstern) den Partner oder gar den Corner herausfischen muss; es gibt Caller, die darauf Rücksicht nehmen und diese Situationen im Middle Break vermeiden.
- Wird der letzte Teil (Closer) - oder, seltener, der Middle Break - musikalisch durch einen Tonartwechsel markiert (einen Ganzton höher), so wird dies von den Tänzern immer als eine Steigerung erlebt. Die einzige choreographische Entsprechung, die sich hier etabliert hat, ist ein Promenade der Boys - das oft (aber nicht notwendigerweise) ein entsprechendes Promenade der Girls (oder auch Four Ladies Chain) zu Beginn der anderen A-Teile ersetzt. Dieses Promenade der Boys wird von den Tänzern immer als dramatischer Höhepunkt empfunden und häufig durch Rufe und rhythmisches Händeklatschen begleitet.
- Die wohl häufigste Lösung für den Beginn ist ein Circle Left in den beiden ersten Zeilen. Das macht ein Allemande Left oder (seltener) ein Walk Around your Corner für den Beginn der Folgezeile mehr oder weniger verpflichtend.
- Innerhalb der drittletzten Zeile wird Swing and Promenade gecallt, so dass die Tänzer die verbleibende Zeit des Formteils für den paarweisen Marsch an die Heimatposition nutzen, während der Caller die beiden Endzeilen des Refrains singt. Wurde an der entsprechenden Stelle gar nichts gecallt (also nur Originaltext gesungen), wird Swing and Promenade von Tänzern automatisch unterstellt und ausgeführt.
- Für viele Kreiscalls kann nicht exakt definiert werden, wo sich die Tänzer nach einer gegebenen Zeit genau befinden werden. Dennoch ist interessant (und den meisten Callern wohl auch nicht bewusst), dass - im Gegensatz zu den B-Teilen (siehe unten) - das abschließende Swing and Promenade meist nicht im ersten, sondern im dritten Quadranten gecallt wird, so dass die Tänzer rein rechnerisch 'zu früh' zur Heimatposition zurückkehren. Ein Grund dafür ist mir nicht bekannt.
- Besteht Interesse am Strophentext, und besteht der zugrundeliegende Song aus einer Strophe und einem Refrain von je vier Zeilen, so wird in den meisten Fällen (und ganz besonders im Opener) genau das folgende Standardschema verwendet:
| Caller: | Tänzer: |
Zuvor: | 'Circle Left' | - |
Zeile 1: | (Erste Strophenzeile des Songs) | Circle Left |
Zeile 2: | (Zweite Strophenzeile des Songs) | Circle Left |
Zeile 3: | (Zwei 'beliebige' Kreiscalls, siehe oben) | Kreiscalls |
Zeile 4: | 'Allemande Left, and Weave the Ring' | Beenden des vorhergehenden Calls; Allemande Left |
Zeile 5: | (Erste Refrainzeile) | Weave the Ring |
Zeile 6: | 'Swing and Promenade' | Beenden Weave the Ring; Swing |
Zeile 7: | (Dritte Refrainzeile) | Promenade |
Zeile 8: | (Vierte Refrainzeile) | Beenden der Promenade mit abschließendem Twirl, Abklatschen, Ausrichten der Squareformation |
Es sollte deutlich werden, dass in den A-Teilen - ganz besonders im Opener - keinesfalls Überraschungen erwartet werden. Nach einem körperlich und geistig anstrengenden Pattern ist hier der Platz für Entspannung durch einfache, vorhersehbare Bewegung. Der Tänzer will hier primär die stimmlichen Fähigkeiten des Callers genießen. Damit ist der Opener Prototyp für alle A-Teile, die aber auch wieder die Tendenz für den gesamten Singing Call festlegen.
Es ist selbstverständlich, dass jede der oben genannten Regeln in unterschiedlichem Maße Ausnahmen zulässt. Diese werden dann aber immer von Caller und Tänzern als solche - wenn sie gut gelingen, oft als etwas Witziges - wahrgenommen.
B-Teile
Ein B-Teil heißt auf englisch 'Figure'; sie werden zur Unterscheidung durchnumeriert. Man kann hier folgende Beobachtungen machen:
- Die wichtigste dramatische Aufgabe der B-Teile aus chroreographischer Sicht ist eine Neuzusammenstellung der Paare: Gegen Ende jedes B-Teils findet sich der Boy wieder an seiner Ausgangsposition, die Girls sind aber jeweils um einen Platz weiter rotiert.
- Man darf das ganze durchaus als ein ritualisiertes Drama ansehen, bei dem der Partner verlorengeht und nach insgesamt vier B-Teilen am Schluss wiedergewonnen wird. Die Tänzerbefriedigung am Schluss des Tips entsteht vielleicht auch durch das archaische Gefühl, den Partner nach schwierigen Proben und Versuchungen am Schluss wiedergewonnen zu haben.
- In etwa 98 Prozent der Fälle wird diese Rotation der Girls gegen den Uhrzeigersinn durchgeführt, so dass also jeder Tänzer jedesmal mit seinem bisherigen Corner zusammenkommt.
- Musikalisch sind die B-Teile meist mit den A-Teilen identisch - Unterschiede gibt es selbstverständlich in der Instrumentation: Tendenziell sind die Figures durchsichtiger als die anderem Abschnitte, und in vielen Aufnahmen neigen der zweite und vierte B-Teil zu einer noch ein wenig dünneren Instrumentation als der vorhergehende Teil. Da sich alle sieben Teile üblicherweise entsprechen, sind auch die Harmonieschemen identisch. Regelmäßig wird auch der B-Teil in den beiden letzten Zeilen durch zwei Refrainzeilen des Songs abgeschlossen.
- Exakt wie am Schluss der A-Teile wird auch für das Ende der B-Teile ein Swing des (nun aber neuen) Partners (hier aber möglichst im ersten Quadranten) mit abschließendem Promenade um den gesamten Square erwartet. Die Promenade darf als eine Art ritualisierte Freude über den gelungenen Figurenteil (die erfolgreiche Eroberung des neuen Partners) aufgefasst werden; der Tänzer wird darauf nicht gerne verzichten wollen. Da sie musikalisch wie erwähnt auf den Refrain fällt, wird diese dramaturgische Wirkung optimal unterstützt.
- Der Swing des bisherigen Corners, der damit zum Partner wird (und so sogar eine - stilistisch im Prinzip veralterte - Folge wie Swing your Corner - Allemande Left - Promenade möglich macht), ist für die B-Teile eines Singing Calls charakteristisch (auch wenn er - etwa aus Zeitgründen, oder wegen der überraschend erreichten Promenade-Position - entfällt). Für einen Pattern ist der Swing einer anderen Person als des eigenen Originalpartners sehr unüblich; er dürfte als 'unnötig', wahrscheinlich sogar als Fehler des Callers empfunden werden.
- Die exakte Länge der B-Teile und die exakte Ausgangs- und Endposition machen die erste sechs Zeilen der B-Teile (bis zum Promenade; musikalisch bis zu den Refrainzeilen) vollständig austauschbar. Der Caller entscheidet oft erst in der gegebenen Situation, was er hier callt und kann auch auf unmittelbar vorangegangene Situation (etwa auf das Erkennen von Schwächen der Tänzer) sofort reagieren.
- Die beliebige Austauschbarkeit der B-Teile auch ohne jede häusliche Vorbereitung macht einen einmal gelernter Singing Call immer wieder verwendbar - in den unterschiedlichsten Situationen, für jedes Tanzniveau und jedes Tanzlevel.
- Wegen der sehr strengen Formvorschrift ist es nur erfahrenen Callern möglich, die B-Teile wirklich nach Sicht zu callen. Wenn nicht einfach eine Menge an auswendig gelernten vollständigen Modulen für den B-Teil zur Verfügung steht, werden sie spontan aus Submodulen zusammengestellt, die die Tänzer jeweils von einer bekannten Position in eine andere Position bringen. (NB: Der hier unterstellte Unterschied zwischen 'freiem' Callen und dem Aneinanderreihen von 'Submodulen' dürfte bei näherer Betrachtung fragwürdig sein.)
- Da sich die Tänzergruppen in ihrem Tempo stark unterscheiden können, wird - trotz einer Standardvereinbarung über die Länge jedes Calls - der Caller immer wieder spontane Anpassungen vornehmen müssen. Typische einfache Fälle auch bei Callern, die vorbereitete Module verwenden, sind das Einfügen oder Weglassen von Figuren, die die Aufstellung nicht verändern (etwa Dosado), der Austausch ganzer Figurengruppen durch andere, die das gleiche Ergebnis in kürzerer oder längerer Zeit bringen, bis zum spontanen Austausch eines A-Teils (weil die Tänzer nicht rechtzeitig für den Grand Square fertig waren).
- Obwohl fast alle käuflichen Schallplatten vier identische B-Teile bringen, wird allgemein eine Variation geschätzt (unter anderem auch, um das Voraustanzen erfahrener Tänzer zu verhindern). Zwei verschiedene B-Teile reichen dabei durchaus; drei oder vier verschiedene Versionen sind möglich. Erfahrene Caller geben andererseits machmal den Rat, zumindest in den Clubabenden immer wieder auch einmal einen Figurenteil exakt zu wiederholen, um bei den Tänzern keine überzogenen Erwartung an die Variationsbreite zu schüren.
- Man erlebt in Einzelfällen, dass erfahrene Caller auch mit einem einzigen besonders gut konstruierten Figurenteil in einem Singing Call auskommen, ohne deshalb auch nur ansatzweise langweilig zu wirken - eine solche offensichtlich beabsichtigte Beschränkung kann im Gegenteil als besondere (fast rituelle) Intensität wirken.
- Da der gesamte Singing Call, wie eingangs erwähnt, für die Tänzer eher Entspannung bedeuten soll, wird auch im B-Teil meist leichter gecallt als im Pattern. Wurde im vorangegangenen Pattern etwas besonderes geübt, kann es hier selbstverständlich verwendet werden; umgekehrt kann der Caller den Pattern nutzen, um auf Details der Singing-Call-Choreographie vorzubereiten.
- Wegen der relativen Kürze des Formteils ist ein Zusammenbrechen des Squares tendenziell nicht so dramatisch wie im Patternteil, da geübteren Tänzern die Endposition klar ist und sie in den beiden Schlusszeilen auch genügend Zeit haben, diese im Fehlerfalle herzustellen. Dennoch wird der Caller primär den Erfolg der Tänzer anstreben, um so dem gesamten Tip einen harmonischen Abschluss zu sichern.
- Da die B-Teile die Tänzer aus der Kreisformation in patternartige Formationen führen sollen, wird in über 99 Prozent der Fälle der erste Call (spätestens aber der zweite) entweder die Heads oder die Sides aktivieren (für Nichtsquaredancer: Eine Unterscheidung der Tänzer nach ihrer Position auf der Längs- oder Schmalseite des Raums). Üblicherweise fangen die beiden ersten B-Teile (zwischen Opener und Middle-Teil) mit den Heads an, die beiden anderen mit den Sides - das ist aber in keiner Weise Pflicht.
- Die beiden mit Abstand häufigsten Anfänge für B-Teile sind Heads/Sides Square Thru und Heads/Sides Promenade. Sie dürften zusammen - je nach Caller - 55 bis 95 Prozent der Anfänge ausmachen; dies hat zur Folge, dass ein Beginn wie etwa Heads/Sides Square Thru 3 oder Heads/Sides Promenade 1/4 in der Regel gefährlich ist durch negativen Transfer - zumindest der erste ist sehr unüblich.
- Sehr viele verwendete B-Teile führen die Tänzer sogleich (oft schon mit dem ersten Call) zu einer Vierergruppe zusammen, die bis zum Swing nicht mehr verlassen wird. Wohl wegen der Kürze jedes Formteils wird dies von den Tänzern im allgemeinen nicht bemerkt, sicher aber nicht als problematisch empfunden.
- Trotz des gerade Gesagten sind bei Tänzern leicht tanzbare, aber überraschende Ausgänge besonders beliebt - etwa nach dem Muster Swing the one behind you.
- Es ist Sache des Callers, ob er die ersten sechs Zeilen singt oder spricht. Bei ungewohnteren Abfolgen oder schlechter Verständlichkeit wird letzteres vorgezogen. Das dürfte auch vom persönlichen Lernstil abhängen; wer akustisch lernt, wird bei dem Versuch, den B-Teil in einem anderen als dem ursprünglichen Song zu verwenden, deutliche Transferschwierigkeiten haben, die durch Sprechen von Anfang an vermieden werden können. - Für die originalen Refrainzeilen wird selbstverständlich Gesang erwartet.
Tag
Aus musikalischen Gründen folgen ganz am Schluss oft noch wenige Takte Musik. In der Regel wird dies für einen Swing des Partners genutzt, der, wenn nicht gecallt, dennoch oft spontan von den Tänzern ausgeführt wird, soweit sie nicht zu müde sind und sofort erkennen, dass sie dazu noch ein paar Sekunden Zeit haben werden.
Zu diesem Swing gibt es einige wenige Alternativen, darunter Four Ladies Chain - Chain them back, Walk around your Corner - See Saw your Partner, seltener den Grand Square (dann meist nur halb) sowie natürlich - noch seltener - eine entsprechende Verlängerung des vorhergehenden A-Teils.
Musik
Grundsätzlich gibt es zur Musik wenig zu ergänzen, was hinausgeht über die bekannte und für den Squaredance charakteristische Tempoeinschränkung und die bereits oben beschriebene formalen Anforderungen. Die Musik wird für Singing Calls oft ein wenig lauter gestellt als für den vorausgegangenen Pattern, so dass sich hier das Verhältnis zur Stimme ändert.
Erfahrene Caller berichten davon, dass ein Song, je bekannter und musikalisch (eventuell auch textlich) anspruchsvoller er ist, um so mehr die Aufmerksamkeit der Tänzer auf sich zieht, so dass geraten wird, die Schwierigkeit der Choreographie auch der musikalischen Komplexität und der Bekanntheit des Songs anzupassen.
Auswahl der Singing Calls
Der Caller trifft die Auswahl sowohl der Singing Calls eines Abends als auch zur Zusammenstellung des eigenen Repertoires wahrscheinlich nach folgenden Gesichtspunkten:
- Persönliche Vorlieben für den Song
- Marktansprüche, also vor allem Tänzerbedürfnisse nach einem bestimmten beliebten Song
- Zugang zu einer Aufnahme auf einem verwendbaren Medium (Schallplatte / CD / MP3-File)
- Zugang zu einer Aufnahme in der gewünschten Stimmlage
- Schaffung eines stilistisch und stimmlich abwechslungsreichen Repertoires, das umgekehrt die Fähigkeiten des Vortragenden gut zur Geltung bringt
- Schaffung eines Repertoires, das schlicht groß genug ist, um einer regelmäßig gleichbleibenden Tänzergruppe auf Dauer Abwechslung zu bieten, und entsprechende Verteilung dieses Repertoires auf verschiedene Termine.
Auswahl der Songs für Singing Calls
Wenn sich eine Tonträgerplattenfirma zum Arrangement und zur Aufnahme eines Songs als Singing Call entscheidet, dürften neben allgemeiner Bekanntheit des Songs und des Callers (der exemplarisch die Schallplattenrückseite besingt) auch weitere Marktüberlegungen eine Rolle spielen, die uns hier erstmal nur am Rande interessieren - man darf aber wohl grundsätzlich erst einmal davon ausgehen, dass die meisten käuflichen Singing-Call-Aufnahmen zunächst einmal einen Markt amerikanischer Rentner anpeilen.
Ich möchte im folgenden einen Blick auf die Singing-Call-Tauglichkeit von Songs aus rein immanenter, also musikalischer und choreographischer, Sicht werfen.
- Da Square Dance sich nur in einem recht schmalen Tempobereich (um 126 BPM) abspielen kann, eignen sich viele Popsongs, deren Originaltempo zu sehr hiervon abweicht, von vorne herein nicht. Zumindest ein einfaches Beschleunigen, eventuell auch unter Verwendung eines 'Pitch-Shifters' liefert bei zu großem Abstand (mehr als etwa 10 Prozent) keine klanglich überzeugenden Resultate mehr. Eine völlige Umarbeitung und Neuaufnahme des Songs wäre in manchen Fällen zwar grundsätzlich vorstellbar, aber wenn - abgesehen vom Aufwand - zuviele und zu charakteristische Details dabei geopfert werden müssten, wird man doch lieber auf den Song verzichten. Dies macht leider viele der aktuellen Popmusik-Stile prinzipiell unadaptierbar (etwa Reggae, Rap). Zugleich ist es die Erklärung dafür, warum einige der bekanntesten Songs amerikanischer Country- & Westernkultur im Squaredancerepertoire vollkommen fehlen.
- In der gesamten Geschichte der Popularmusik sind immer wieder Songs entstanden, die zwar die charakteristische Struktur aus je vierzeiliger Strophe und Refrain besitzen, aber bewusst ganze Takte oder auch einzelne Beats auslassen oder einfügen. Einige bekanntere Beispiele: Folsom Prison Blues (Johnny Cash), These Boots are Made for Walking (Lee Hazlewood/Nancy Sinatra) oder Good Day, Sunshine (The Beatles). Es gibt von mehreren dieser Songs auch Aufnahmen als Singing Calls, denen aber die Schwierigkeit der Adaption anzumerken ist, und die entsprechend auch eher selten verwendet werden.
- Ein oder zwei einzelne weggefallene oder zusätzliche Beats stellen dabei allerdings prinzipiell kein Problem dar.
- Parallel hat es zu allen Zeiten Songs gegeben, bei denen Strophe und/oder Refrain deutlich länger sind (6 Zeilen, 8 Zeilen), und die sich aus diesem Grunde einer Adaption in den Weg stellten.
- Etwa in den Achtzigern wurde für Popsongs zum Standard, was auch vorher immer wieder aufgetreten war: Man ersetzte mehr und mehr die Regelabfolge 'Strophe 1 - Refrain - Strophe 2 - Refrain...' durch ein dreigliedriges Schema, das zwischen Strophe und Refrain noch eine sogenannte 'Bridge' einschiebt, oft von acht Takten (also vier Zeilen, 32 Beats). Es liegt auf der Hand, dass hier ohne sehr tiefgreifende Einschnitte in die originale Songstruktur eine Adaption als Singing Call in seiner 'klassischen' Form nicht mehr möglich ist. (Ein recht bekanntes Beispiel für einen derartigen - nach allgemeiner Meinung nicht gerade gelungenen - Versuch ist 'Lemon Tree', bei dem die originale Bridge vollkommen verschwand.)
- Es gibt eine Reihe von Popsongs aus jeweils vierzeiligen Teilen in der mehrfachen Abfolge 'Strophe - Bridge - Refrain', die den Versuch nahelegen, einen derartigen Song unverändert als Singing Call zu verwenden. Da aber die oben dargestellte choreographische Dramaturgie nicht durch das Auftreten der Refrains an der erwarteten Stelle unterstützt wird, überzeugt eine solches Konstruktion nicht.
- Alternativ wäre in einem solchen Fall nur denkbar, die zu tanzenden Formteile entsprechend zu verlängern, so dass dann die Choreographie der Songstruktur folgen kann. Das dürfte in den A-Teilen noch am wenigsten Schwierigkeiten machen - besonders, wenn es sich nur um wenige Takte handelt. Dennoch besteht grundsätzlich die Gefahr, dass der gesamte Singing Call möglicherweise zu lang wird für die Tänzer, die ja - vom vorangegangenen Pattern ermüdet - hier eher Entspannung suchen.
- Gegen zu lange Figure-Teile gibt gleich eine ganze Reihe von schwerwiegenden Einwänden: Für die tägliche Callerpraxis dürfte hauptsächlich die Tatsache hinderlich sein, dass nun das Prinzip der beliebigen Austauschbarkeit der B-Teile obsolet würde. Weiter entsteht die Gefahr, Tänzer zu frustrieren, die wegen eines Fehlers abbrechen und nun eventuell sehr lange warten müssen. Vor allem aber werden diese Teile sofort in der choreographischen Gestaltung viel anspruchsvoller, da es nach etwa einer halben Minute nicht mehr ausreichen dürfte, die Tänzer durchweg auf einer kleinen Fläche in derselben Vierergruppe zu beschäftigen.
- Die Tanzmusik der Neunziger Jahre (Techno, House, etc) ging tendenziell wieder weg von den strengeren Songstrukturen. Daher ist sie einerseits flexibler, also leichter adaptierbar, andererseits fehlt durch einen deutlich abgegrenzten (und mitsingbaren) Refrain der Höhepunktcharakter und damit ein wesentliches dramaturgisches Element; derartige Musik hat ihre Anwendung typischerweise eher als Pattern-Musik gefunden (und dies anscheinend auch nur in Europa).
Erstaunlicherweise haben sich anscheinend nur sehr wenige Tänzer gefragt, warum die so reiche Welt des Blues bisher kaum als Musik für Squaredance herangezogen wurde. Blues baut bekanntlich normalerweise auf einem zwölftaktigen Schema auf, das also zu gängigen Singingcalls ganz unkompatibel ist. Da bestimmte Musikstile immer auch von bestimmten Hörergruppen bevorzugt werden, darf man davon ausgehen, dass bereits die beschriebene musikalische Form in gewissem Maß einen Einfluss auf die soziologische Zusammensetzung zumindest amerikanischer Tänzergruppen hatte (und vielleicht hat).
Es drängt sich der Eindruck auf, dass aktuellere (und damit unter Umständen 'interessantere') Musik vor allem auch deshalb ihren Weg in das Singing-Call-Repertoire nicht findet, weil deren gleichzeitig filigranes und rigides Formkorsett, wie es sich heute präsentiert, dies schlicht nicht gestattet. Das führt zu einer Begrenzung auch der möglichen musikalischen Stile, die durchaus mit ein Grund für das Desinteresse jüngerer Tänzer sein könnte.
Zukunft - ein Ausblick
Es ist möglicherweise deutlich geworden, dass die beschriebenen 'Regeln' für Singing Calls zwar bei näherer Betrachtung recht streng und sehr umfangreich sind, dass sie aber nicht etwa ein willkürliches und von außen herangetragenes System darstellen, sondern in subtiler Weise die Situation und Bedürfnisse der Tänzer reflektieren (sonst könnten sie ja auch auf Dauer nicht erfolgreich sein). Das Bedürfnis, Popmusik mit entwickelterer Form für einen Singig Call nutzbar zu machen, wird immer scheitern, wenn gleichzeitig an der Austauschbarkeit zumindest der B-('Figure-') Teile festgehalten werden soll. Man mag - wenn nicht jetzt, dann in einigen Jahrzehnten - die Frage nach der Zukunft von Singing Calls stellen angesichts einer sich rapide ändernden Popmusiklandschaft.
Dazu sehe ich gegenwärtig zwei gegensätzliche Ansätze, die sich aber nicht gegenseitig ausschließen, sondern möglicherweise sogar ergänzen können:
- Entwicklung einer individuellen Choreographie für jeden einzelnen Song, also präzise Vorbereitung einer ausgefeilten Abfolge, die den musikalischen formalen Eigenarten genau folgt und sie optimal unterstützt, vielleicht dem Rounddance oder von Ferne der Arbeit einem klassischen Ballett vergleichbar. Für Sight-Caller mag das im ersten Moment undenkbar und ganz inakzeptabel aussehen, die Unterstüzung durch Computer könnte aber auch hier in Zukunft die Variation von Abend zu Abend genauso garantieren wie die eine schnelle und mühelose Anpassbarkeit an jedes Tänzerlevel. - Auch hier wäre es ja kein Problem, gewisse Abschnitte - beispielsweise in der Länge eines 'klassischen' Formteils - immer noch life zu extemporieren, auch wenn - gegenüber der heutigen Situation vielleicht längere - Abschnitte normalerweise fest bleiben.
- Der umgekehrte Weg: Ein freieres Callen, oft über die Formgrenzen der Musik hinweg. Refrains werden teilweise ausgesungen, wenn sie zeitlich passen, können im Einzelfall aber auch ignoriert werden. Zumindest vorstellbar (wenn auch alles andere als zwingend), dass - ebenfalls mit Computerunterstützung - die Musik in Zukunft einmal dem Caller folgen wird, oder von diesem in simpler Weise steuerbar ist. - Es liegt auf der Hand, dass sich bei einer derartigen Herangehensweise der Abstand zu den Pattern deutlich verringert: Will man ihn behalten, wird man die Grenze möglicherweise an eine andere Stelle verlegen müssen, indem dann gewisse Freiheiten des Pattern aufgegeben werden. Vielleicht kann man dann bewusst 'Denkpattern' mit sehr durchsichtiger Musik abgrenzen von 'flüssigen Pattern', in denen Musik und Bodyflow im Vordergrund stehen. Sogar eine dreiteilige Tanzfolge ist theoretisch vorstellbar.
Sicher ist, dass keiner dieser beiden Neuansätze die heute übliche, kanonisch siebenteilige Form wirklich benötigt. Aus dramaturgischer, also choreographischer Sicht müssen die Formteile ja nicht unbedingt exakt gleich lang sein, und sicher können auch ein oder gar mehrere davon entfallen (etwa indem die Tänzer zum Corner und dann unter Auslassung des Opposite zum Right-Hand-Dancer gebracht werden, oder auch nur zum Opposite und zurück). Ähnliche 'Abkürzungen' werden bereits heute regelmäßig für Hexagons (=Squares aus sechs Paaren) verwendet, die ja andernfalls in ihrer theoretisch neunteiligen Form wahrscheinlich zu lang und/oder zu langweilig würden.
Möglicherweise werden sich auch noch ganz andere, viel freiere Strategien finden, die den Tänzern ein vergleichbares Lost-and-Found-Erlebnis des Parters gestatten, die aber möglicherweise besser an andere Songstrukturen adaptierbar sind. Auch wenn das nun alles etwas theoretisch und wie Zukunftsmusik klingt, möchte ich doch jeden Caller ermuntern, die bekannte Form nicht immer so dogmatisch streng zu nehmen; wenn sie kein Experimentieren und keinen spielerischen Umgang verträgt, sind ihre Tage sowieso gezählt.