Beobachtungen an Singing Calls

(Version 2005-04-06)

Martin Ingenhütt
MARTIN_INGENHUETT_AT_EUROPEAN_CALLERS_AND_TEACHERS_ASSOCIATION

[Der folgende Text wurde in seiner ersten Fassung als eine Art pseudo-ethnographische Einführung in den Squaredance für ein Publikum mit einer gewissen musikalischen Vorbildung geschrieben; mehrfache Überarbeitung versuchten anschließend, das Dokument auch für andere Lesergruppen genießbar zu machen (dennoch wurde nicht jeder musikalische Fachausdruck erklärt). Immer mehr hinzugefügte choreographische Details dürften die Lektüre inzwischen für jeden abstrakt machen, der mit dem Squaredance nicht vertraut ist.]

Der Text versucht, ohne explizite Wertung all das zusammenzustellen, was dem Autor über das Themas bekannt ist - eigene Beobachtungen ebenso wie Hinweise erfahrener Caller. Hauptthema ist dabei die formale Gestaltung, also die Abläufe in der Zeit. Jede Ergänzung seitens eines Lesers ist willkommen und wird möglicherweise in die nächste Textversion einfließen. Dank an dieser Stelle an Annette Spelger für mehrere sehr fruchtbare und erhellende Diskussionen.
 

Singing Call

Als Abschluss der zweiteilige Squaredance-Tanzfolge (des 'Tips') folgt ein Tanz von üblicherweise gut dreieinhalb Minuten Länge. Dieser Singing Call basiert auf irgendeinem bekanntem Popsong (häufig im Country&Western-Stil); er bietet den Tänzern einen Wiedererkennungs- und eventuell Mitsingeffekt und - aus choreographischer Sicht - gegenüber dem vorangegangenen Pattern eine gewisse Entspannung.
 

Form

Singing Calls sind in erstaunlicher Strenge standardisiert. Sie bestehen heute praktisch ohne Ausnahme aus sieben exakt gleichlangen Teilen zu jeweils acht Zeilen à acht Beats. Jeder Formteil umfasst also streng 64 Beats, der gesamte Singing Call damit das siebenfache, woran sich häufig noch ein Anhängsel ('Tag') von wenigen Beats anschließt (üblicherweise im Rahmen von zwei Zeilen, also 16 Beats); vorauf gehen meist zwei (selten eine) Zeile 'Intro', die den Beteiligten helfen, sich auf Tempo, Tonart und Atmosphäre einzustellen, choreografisch aber nicht genutzt werden.

Anmerkung: Der Autor sammelt Aufnahmen von Singing Calls, die eine ungewöhnliche Form haben. Hinweise zu solchen Beispielen sind deshalb immer sehr willkommen.

Auch wenn die Formteile gleiche Länge haben, gehören sie aus choreographischer (nicht unbedingt musikalischer) Sicht zu einem von zwei Typen, die nach dem Schema 'A BB A BB A' aufeinanderfolgen. Dabei haben die A- und B-Teile streng unterschiedliche Funktionen; alle hier mit gleichem Buchstaben bezeichneten Teile können in der Choreographie identisch sein und sind dies auch fast immer auf der gecallten Seite der käuflichen (Single-)Schallplatten; zumindest die B-Teile werden aber im Life-Betrieb praktisch immer ausgetauscht.

Musikalisch sollte man sich nicht etwa vorstellen, dass die einen Teile die Strophen und die anderen die Refrains des zugrundeliegenden Songs repräsentieren; vielmehr bilden - von wenigen Ausnahmen abgesehen - meist je eine Strophe und ein Refrain zusammen jeweils einen Formteil des A- oder B-Typs.
 

A-Teile

Die drei A-Formteile heißen im Jargon 'Opener', 'Middle Break' und 'Closer'; als gemeinsamer Name wird manchmal 'Break' verwendet. Choreographie, Musik und gesungener Text sind geprägt durch folgende Kriterien:

Es sollte deutlich werden, dass in den A-Teilen - ganz besonders im Opener - keinesfalls Überraschungen erwartet werden. Nach einem körperlich und geistig anstrengenden Pattern ist hier der Platz für Entspannung durch einfache, vorhersehbare Bewegung. Der Tänzer will hier primär die stimmlichen Fähigkeiten des Callers genießen. Damit ist der Opener Prototyp für alle A-Teile, die aber auch wieder die Tendenz für den gesamten Singing Call festlegen.

Es ist selbstverständlich, dass jede der oben genannten Regeln in unterschiedlichem Maße Ausnahmen zulässt. Diese werden dann aber immer von Caller und Tänzern als solche - wenn sie gut gelingen, oft als etwas Witziges - wahrgenommen.
 

B-Teile

Ein B-Teil heißt auf englisch 'Figure'; sie werden zur Unterscheidung durchnumeriert. Man kann hier folgende Beobachtungen machen:
 

Tag

Aus musikalischen Gründen folgen ganz am Schluss oft noch wenige Takte Musik. In der Regel wird dies für einen Swing des Partners genutzt, der, wenn nicht gecallt, dennoch oft spontan von den Tänzern ausgeführt wird, soweit sie nicht zu müde sind und sofort erkennen, dass sie dazu noch ein paar Sekunden Zeit haben werden.

Zu diesem Swing gibt es einige wenige Alternativen, darunter Four Ladies Chain - Chain them back, Walk around your Corner - See Saw your Partner, seltener den Grand Square (dann meist nur halb) sowie natürlich - noch seltener - eine entsprechende Verlängerung des vorhergehenden A-Teils.
 

Musik

Grundsätzlich gibt es zur Musik wenig zu ergänzen, was hinausgeht über die bekannte und für den Squaredance charakteristische Tempoeinschränkung und die bereits oben beschriebene formalen Anforderungen. Die Musik wird für Singing Calls oft ein wenig lauter gestellt als für den vorausgegangenen Pattern, so dass sich hier das Verhältnis zur Stimme ändert.

Erfahrene Caller berichten davon, dass ein Song, je bekannter und musikalisch (eventuell auch textlich) anspruchsvoller er ist, um so mehr die Aufmerksamkeit der Tänzer auf sich zieht, so dass geraten wird, die Schwierigkeit der Choreographie auch der musikalischen Komplexität und der Bekanntheit des Songs anzupassen.
 

Auswahl der Singing Calls

Der Caller trifft die Auswahl sowohl der Singing Calls eines Abends als auch zur Zusammenstellung des eigenen Repertoires wahrscheinlich nach folgenden Gesichtspunkten:


Auswahl der Songs für Singing Calls

Wenn sich eine Tonträgerplattenfirma zum Arrangement und zur Aufnahme eines Songs als Singing Call entscheidet, dürften neben allgemeiner Bekanntheit des Songs und des Callers (der exemplarisch die Schallplattenrückseite besingt) auch weitere Marktüberlegungen eine Rolle spielen, die uns hier erstmal nur am Rande interessieren - man darf aber wohl grundsätzlich erst einmal davon ausgehen, dass die meisten käuflichen Singing-Call-Aufnahmen zunächst einmal einen Markt amerikanischer Rentner anpeilen.

Ich möchte im folgenden einen Blick auf die Singing-Call-Tauglichkeit von Songs aus rein immanenter, also musikalischer und choreographischer, Sicht werfen.

Erstaunlicherweise haben sich anscheinend nur sehr wenige Tänzer gefragt, warum die so reiche Welt des Blues bisher kaum als Musik für Squaredance herangezogen wurde. Blues baut bekanntlich normalerweise auf einem zwölftaktigen Schema auf, das also zu gängigen Singingcalls ganz unkompatibel ist. Da bestimmte Musikstile immer auch von bestimmten Hörergruppen bevorzugt werden, darf man davon ausgehen, dass bereits die beschriebene musikalische Form in gewissem Maß einen Einfluss auf die soziologische Zusammensetzung zumindest amerikanischer Tänzergruppen hatte (und vielleicht hat).

Es drängt sich der Eindruck auf, dass aktuellere (und damit unter Umständen 'interessantere') Musik vor allem auch deshalb ihren Weg in das Singing-Call-Repertoire nicht findet, weil deren gleichzeitig filigranes und rigides Formkorsett, wie es sich heute präsentiert, dies schlicht nicht gestattet. Das führt zu einer Begrenzung auch der möglichen musikalischen Stile, die durchaus mit ein Grund für das Desinteresse jüngerer Tänzer sein könnte.
 

Zukunft - ein Ausblick

Es ist möglicherweise deutlich geworden, dass die beschriebenen 'Regeln' für Singing Calls zwar bei näherer Betrachtung recht streng und sehr umfangreich sind, dass sie aber nicht etwa ein willkürliches und von außen herangetragenes System darstellen, sondern in subtiler Weise die Situation und Bedürfnisse der Tänzer reflektieren (sonst könnten sie ja auch auf Dauer nicht erfolgreich sein). Das Bedürfnis, Popmusik mit entwickelterer Form für einen Singig Call nutzbar zu machen, wird immer scheitern, wenn gleichzeitig an der Austauschbarkeit zumindest der B-('Figure-') Teile festgehalten werden soll. Man mag - wenn nicht jetzt, dann in einigen Jahrzehnten - die Frage nach der Zukunft von Singing Calls stellen angesichts einer sich rapide ändernden Popmusiklandschaft.

Dazu sehe ich gegenwärtig zwei gegensätzliche Ansätze, die sich aber nicht gegenseitig ausschließen, sondern möglicherweise sogar ergänzen können:

Sicher ist, dass keiner dieser beiden Neuansätze die heute übliche, kanonisch siebenteilige Form wirklich benötigt. Aus dramaturgischer, also choreographischer Sicht müssen die Formteile ja nicht unbedingt exakt gleich lang sein, und sicher können auch ein oder gar mehrere davon entfallen (etwa indem die Tänzer zum Corner und dann unter Auslassung des Opposite zum Right-Hand-Dancer gebracht werden, oder auch nur zum Opposite und zurück). Ähnliche 'Abkürzungen' werden bereits heute regelmäßig für Hexagons (=Squares aus sechs Paaren) verwendet, die ja andernfalls in ihrer theoretisch neunteiligen Form wahrscheinlich zu lang und/oder zu langweilig würden.

Möglicherweise werden sich auch noch ganz andere, viel freiere Strategien finden, die den Tänzern ein vergleichbares Lost-and-Found-Erlebnis des Parters gestatten, die aber möglicherweise besser an andere Songstrukturen adaptierbar sind. Auch wenn das nun alles etwas theoretisch und wie Zukunftsmusik klingt, möchte ich doch jeden Caller ermuntern, die bekannte Form nicht immer so dogmatisch streng zu nehmen; wenn sie kein Experimentieren und keinen spielerischen Umgang verträgt, sind ihre Tage sowieso gezählt.

[Weitere Texte vom gleichen Autor: www.calling.scootback.de]
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